MEIN ALLTAG MIT MS
Wie beeinflusst Multiple Sklerose das Sexualleben?
Sex in der „Hochglanz“-Vorstellung vieler Menschen besteht aus „perfekten“ Körpern mit unendlich viel Ausdauer, geradezu artistischer Beweglichkeit und abschließend tiefer Befriedigung. Eingebettet in romantisches Kerzenlicht und duftende Rosen … Aber jetzt mal Hand aufs Herz … Wie realistisch ist das?
Der erste Tipp für ein erfülltes Sexualleben trotz MS lautet daher: Vertreiben Sie Hochglanzbilder aus Ihrem Kopf, die stimmen sowieso selten. Fakt ist aber auch, dass eine MS das Sexualleben beeinflussen, beeinträchtigen, mindern, verkomplizieren – also schlicht die Lust nehmen – kann. Und da hilft nur, wie so oft: Erkennen. Eingestehen. Handeln.
MS und Sexualität — (k)ein Thema
Sie denken, Sie sind allein mit Ihrer Unlust? Weit gefehlt! Acht Prozent der MS-Erkrankten gaben in Deutschland in 2018 an, eine sexuelle (Funktions)Störung durch MS zu haben – und ja, das hört sich erst einmal hoch an. Vermutet wird jedoch, dass die Dunkelziffer sehr viel höher liegt. In einer Untersuchung aus den USA berichteten 64 % aller befragten Menschen mit MS über Probleme mit ihrer Sexualität. Und leider: Weder die Menschen mit MS noch Ihre Behandler:innen sprechen über das Thema. So bleibt die „Unlust“ viel zu oft unbehandelt.¹,²
„Sinnlichkeit ist die höchste Form des Geistes“
Johann Wolfgang
von Goethe
Symptome sexueller Störungen bei MS
Symptome Frauen:
- weniger Lust (Libidoverlust durch MS)
- es kommt seltener zum Orgasmus
- Empfindungsstörungen oder Schmerzen im Genitalbereich (z. B. durch vaginale Trockenheit bei MS)
Symptome Männer:
- weniger Lust (Libidoverlust durch MS)
- der Penis wird nicht steif genug (erektile Dysfunktion bei MS), es kommt seltener zum Orgasmus
- Ejakulation fällt schwerer
Wenn Sie je in Ihrem Leben über Sex und seine Unwägbarkeiten gesprochen haben, werden Ihnen diese Symptome bekannt vorkommen. Und sie haben per se nicht immer mit MS zu tun.³ Allerdings kann die Multiple Sklerose das Sexualleben darüber hinaus beeinflussen.
MS und Sexualität: Formen der „Unlust“
Heute werden drei Ursachen für sexuelles Unwohlsein bei der MS unterschieden. Sich die einmal klar zu machen, hilft dabei, die Ursachen für die Symptome besser zu verstehen.
- Primäre Form: MS-Symptome wirken direkt auf die Sexualität – dazu können z. B. beeinträchtigtes sexuelles Empfinden oder beeinträchtigte „Funktion“ gehören.
Hintergrund: Da Teile des zentralen Nervensystems bei MS geschädigt sind, können sich Empfindungen wie Erregung oder Orgasmus verändern, z. B. nicht mehr so intensiv sein. - Sekundäre Form: MS-Symptome wirken indirekt auf das Sexualleben. Dazu gehören z. B. Fatigue (tiefe Müdigkeit) oder Inkontinenz. Hinzukommen können Spastiken, die Bewegung unangenehm oder schmerzhaft machen.
- Tertiäre Form: Umfasst psychosoziale und emotionale Faktoren, z. B. ein verändertes, reduziertes Selbstwertgefühl, das die Lust raubt. Auch Stimmungsschwankungen oder Traurigkeit sind Lebenslagen, in denen man nicht zuerst an Sex denkt.⁴
Studien beschreiben Risikofaktoren für Unlust ⁵ ⁶
So richtig gut untersucht ist das Thema MS und Sexualität noch nicht, bekommt aber zunehmend Stellenwert. Denn sexuelle Gesundheit und Aktivität tragen für viele Menschen erheblich zum persönlichem Wohlbefinden bei. Eine recht aktuelle Studie untersuchte, ob sich Risikofaktoren für sexuelle (Un)Lust bei Menschen mit MS finden lassen, drei davon sind:
- Wer einen Behinderungsgrad hat, hat ein ca. zweifach höheres Risiko.
- Eine Depression trägt etwa ein vierfach höheres Risiko – MS hat ein erhöhtes Risiko für Depression.
- Wenn Blasen- und/oder Darmfunktion beeinträchtigt sind, besteht ein fast neunfach höheres Risiko.
Außerdem fand die Studie Hinweise darauf, dass erhöhte oder erniedrigte Spiegel verschiedener Hormone Einfluss auf die MS und Sexualität zu haben scheinen (bei Frauen und Männern). Der Gedanke, dass Hormone dann die Lust steigern könnten, liegt nahe. Allerdings weiß man heute nicht genug über die Zusammenhänge, um geeignete Therapien anbieten zu können.
Libidoverlust durch MS, erektile Dysfunktion bei MS, vaginale Trockenheit & MS ... erkennen und behandeln
Wenn Sie sexuelle Beeinträchtigungen an sich entdecken, kann die MS die Ursache sein – muss es aber nicht. Es gilt, sich auf die Suche zu begeben.
Allgemeine Tipps für ein erfülltes Sexualleben trotz MS
Physiotherapie: Über physiotherapeutische Trainings lassen sich Spasmen reduzieren, Beweglichkeit erhalten oder wiederherstellen.
Selbstliebe und Selbstpflege: Entspannungsverfahren stärken das Körpergefühl und helfen dabei, den „Kopf“ freier zu bekommen, um den Sex besser genießen zu können.
Sie haben eine regelmäßige Medikation? Schauen Sie, ob diese das Sexualleben beeinträchtigen kann. Dazu gehören z. B. einige Psychopharmaka, Blutdrucksenker (etwa Betablocker), Kortisone. Vielleicht lassen sie sich austauschen oder reduzieren?
Männer: Erektile Dysfunktion bei MS
Untersucht werden die Blutgefäße, das periphere Nervensystem und auch das Hormonsystem. Das geschieht bei Fachärzt:innen über recht einfache Messungen. Hat ein Mann z. B. noch nächtliche Erektionen, ist die eigentliche Ursache eher nicht die MS. Vermutlich hat es dann keine organische Ursache, sondern ist eher eine „Kopfsache“.
Behandlungsmöglichkeiten bei Männern:
- zugrunde liegende Ursache behandeln
- Medikamente
- mechanische Geräte (Erektionshilfen)
Nehmen Sie nur Medikamente, die Ihre Ärztin oder Ihr Arzt Ihnen verschreiben. Jedes Medikament hat Nebenwirkungen! Bestellen Sie nicht „einfach“ im Internet.⁷
MS und Sexualität bei Frauen
Frauen geben vor allem vaginale Trockenheit bei MS (Scheidentrockenheit), ein verändertes (Lust)Empfinden (Libidoverlust durch MS) und Inkontinenz als störend beim Sex an.
Mögliche Lösungen sind:
- Gleitcremes nutzen.
- Vibratoren steigern die Erregung.
- Bei Inkontinenz: Blase vor dem Sex entleeren und vorher etwas weniger trinken.
- Sollte Sex Spastiken (z. B. in Oberschenkel) auslösen, kann dies vielleicht durch die regelmäßige Einnahme oder Anwendung spastikreduzierender Medikamente verhindert werden.
- Die Stellung finden, die am angenehmsten ist.
- Ist z. B. die Klitoris nicht mehr so empfindlich, andere erogene Zonen suchen. Zu weiteren erogenen Zonen bei der Frau zählen z. B. Lippen, Mundwinkel, Zunge, Handgelenke, Ohrläppchen, Nacken, Rücken …
Und viele sagen ja: Die größte erogene Zone des Menschen ist das Gehirn und seine Gedanken …³,⁸,⁹
Sie möchten sich auf Spurensuche begeben?
Sie fühlen sich nicht wohl mit Ihrer Unlust und würden sie gern aktiv angehen, wissen aber nicht wie? Recht hilfreich kann da ein Fragebogen zum Thema MS und Sexualität sein. Mit dem können Sie Ihrer Unlust auf die Schliche kommen.
Partnerschaft und MS: Tipps für ein erfülltes Sexualleben trotz MS
Wenn Sie bemerken, dass sich Ihr Körper verändert oder Sie – im Gegensatz zu früher – einfach keine Lust mehr haben oder sexuell aufgeladenen Situationen mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin aus dem Weg gehen, kann der Rat nur lauten: Machen Sie es zum Thema. Reden Sie mit Ihrem Partner bzw. Ihrer Partnerin. Versuchen Sie, Lösungen zu finden. Offenheit kann Ihre Partnerschaft womöglich sogar stärken, statt sie zu schwächen.
Worum es gehen kann:
- Vielleicht einmal ein Experiment wagen über verschiedene Positionen?
- Darüber reden, ob spontaner Sex mehr Spastiken oder Schmerzen auslöst als ein geplanter? Dann lassen sich ja Verabredungen treffen. Zum Beispiel Sex nicht nach einem langen Arbeitstag …
Und: Reden Sie auch mit Ihrem Behandlungsteam!
MS und Sexualtherapie
Wenn Sie sich nicht direkt in das persönliche Umfeld vorwagen mit dem Thema, suchen Sie professionelle Hilfe, z. B. durch Psycho- und/oder Sexualtherapie. Dort können Sie auch lernen, Ihre womöglich tief in sich vergrabenen Bedenken und Beschwerden in einem geschützten Raum laut zu formulieren und zu bearbeiten.
Tipp
Unser Blog bietet weitere interessante Themen zum Leben mit MS im Alltag und wird kontinuierlich erweitert!
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Disclaimer
Diese allgemeinen Informationen haben nicht die Absicht, eine Erkrankung zu diagnostizieren oder medizinisches Fachpersonal zu ersetzen. Um die beste Beratung für Ihre Krankheit sowie Antworten auf Ihre medizinischen Fragen zu erhalten, sollten Sie einen Mediziner konsultieren. Nur ein Arzt kann Ihre Lage vollumfänglich und angemessen einschätzen und entscheiden, welche Behandlungen erforderlich sind.
Quellen
1 – Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft. Sexuelle Störungen bei Multipler Sklerose – hohe Dunkelziffer? https:// www.dmsg.de/multiple-sklerose/ms-erforschen/grafiken-des-quartals/monats/berichte-zu-grafiken-des-quartals/ monats/sexuelle-stoerungen-bei-ms
2 – Domingo, S., Kinzy, T., Thompson, N., Gales, S., Stone, L., Sullivan, A. (2018) Factors Associated with Sexual Dysfunction in Individuals with Multiple Sclerosis: Implications for Assessment and Treatment. Int J MS Care, ;20(4):191–197. doi: 10.7224/1537-2073.2017-059
3 – Amsel. (2021). Störungen der Sexualität. https://www.amsel.de/multiple-sklerose/behandeln/diesymptomatische- therapie-der-ms/stoerungen-der-sexualitaet/
4 – Rom, M. (o. D.) MS und Sexualität. https://www.msges.at/multiple-sklerose/symptome/sexualitaet/
5 – Klingler, M. (2023). Multiple Sklerose: Wenn das Sexualleben leidet. https://www.gelbe-liste.de/neurologie/ multiple-sklerose-wenn-sexualleben-leidet
6 – Di Pauli et al. (2023): Sexual dysfunction in female and male people with multiple sclerosis: disability, depression and hormonal status matter. European Journal of Neurology, DOI: https://doi.org/10.1111/ene.15696
7 – Hirsch, I. H. (2022). Erektionsstörung (erektile Dysfunktion, ED). https://www.msdmanuals.com/de-de/ heim/gesundheitsprobleme-von-männern/sexualfunktion-und-sexuelle-funktionsstörungen-bei-männern/ erektionsstörung-erektile-dysfunktion-ed
8 – Eitenberger, M. (2024). 6 erogene Zonen bei der Frau. https://www.meinmed.at/gesundheit/erogene-zonenfrau/ 2633
9 – Schweizer Multiple Sklerose Gesellschaft. (o. D.). Sexuelle Schwierigkeiten. https://www.multiplesklerose.ch/ PDF/de/Infoblaetter/01_Medizinische_und_therapeutische_Fragen/MS-Info_Sexuelle_Schwierigkeiten.pdf
Internetquellen zuletzt besucht am 15.09.2024