MEIN ALLTAG MIT MS
Multiple Sklerose und Schmerzen
Bitte nicht schon wieder – oft dann, wenn man es gar nicht gebrauchen kann, kommen die Schmerzen und Missempfindungen wie Brennen, Kribbeln. Dabei möchten Sie eigentlich aufstehen, um sich einen Tee zu kochen. Aber wie soll das gehen mit den Krämpfen in den Händen? Sie fühlen sich ausgebremst, fühlen vielleicht Angst, Hilfslosigkeit, Wut … Sind Sie dagegen machtlos? Nein, das sind Sie nicht. Wer versteht, wie bei einer Multiplen Sklerose Schmerzen entstehen, begreift besser, wie er ihnen begegnen kann. Kann lernen, besser mit diesen Situationen umzugehen. Und wie immer gilt: Je eher die Ursache für den Schmerz gefunden ist, desto besser lässt er sich behandeln.
Was eine MS-Spastik ist und wie sie entsteht
MS gehört zu den Autoimmunerkrankungen. Das heißt, das Immunsystem des Körpers greift nicht nur Erreger oder körperfremde Stoffe an, sondern auch körpereigene Strukturen. Bei einer MS entstehen so Entzündungen an den Umhüllungen der Nervenbahnen (Myelinscheiden). Diese Umhüllungen sorgen dafür, dass der Transport von elektrischen Signalen aus dem Gehirn koordiniert erfolgt, wie bei der Isolierung eines Stromkabels. Sind sie beschädigt, erfolgt die Weiterleitung der Information aus dem Gehirn nicht mehr so geregelt. Ein Ausdruck geschädigter Umhüllungen sind z. B. MS-Spastiken: Das Gehirn gibt zwar den Befehl für eine Bewegung, aber die Informationen kommen schneller, ständig oder unvollständig am Muskel an. Das kann sich dann in einer Spastik, einer nicht gewollten Bewegung, ausdrücken und Spastik-bedingte Schmerzen auslösen.1 Beispiele sind Krämpfe in den Händen oder Füßen oder Spastiken in der Rückenmuskulatur durch die MS.
„IM LEBEN GEHT ES NICHT DARUM, GUTE KARTEN ZU HABEN, SONDERN AUCH MIT EINEM SCHLECHTEN BLATT GUT ZU SPIELEN.”
Unbekannt
Nozizeptive und neuropathische Schmerzen bei MS
Schmerzen sind nach aktuellen Untersuchungen das fünfthäufigste Symptom bei einer MS. Wobei die Häufigkeit mit der Dauer der Erkrankung steigt.2 Zwei Arten des Schmerzes lassen sich unterscheiden:
- Nozizeptive Schmerzen: Das sind Schmerzen, die jede und jeder kennt und die z. B. nach Verletzungen auftreten. Oft helfen dann frei verfügbare Schmerzmittel aus der Apotheke (z. B. nicht-steroidale Schmerzmittel).
- Neuropathische Schmerzen bei MS: Sie entstehen, wenn Teile des Nervensystems (Zellen, Rückenmark, Hirn) beschädigt sind. Das kann z. B. auch nach einem Bandscheibenvorfall, einer Zuckerkrankheit oder der Gürtelrose passieren … Bei neuropathischen Schmerzen sind frei verfügbare Medikamente häufig nicht ausreichend wirksam. Medikamente, die ursprünglich zur Behandlung von Depressionen oder Epilepsie entwickelt wurden, können auch bei neuropathischen Schmerzen wirksam sein. Diese Medikamente können die Aktivität der schmerzleitenden Nervenbahnen beeinflussen.3,4
Multiple Sklerose und Schmerzen — durch Spastik bedingte Beschwerden
Schmerzen können z. B. durch eine MS-Spastik verursacht sein – ein übermäßig angespannter und verkrampfter Muskel tut einfach weh. Das gilt für einschießende, plötzliche Spastiken wie für dauerhaft muskuläre Anspannung. Schmerzen können aber auch als Folge von MS-Spastiken auftreten. Und zwar dann, wenn durch die Verkrampfung die Beweglichkeit eingeschränkt ist und sich Fehlhaltungen ausbilden. Auf medizinisch heißt das: sekundärer Schmerz. Sekundäre Schmerzen zeigen sich z. B. im Rücken, in den Beinen oder im Nacken. Um eine geeignete Therapie zu finden, sollte der Grund für die Schmerzen klar sein. Für eine MS kann auch der sogenannte neuropathische Schmerz typisch sein.
Neuropathische Schmerzen bei MS
Schmerzen als direkte Folge der MS entstehen, wenn die Nervenfasern beschädigt sind, die die Schmerzimpulse leiten – sie z. B. besonders aktiv oder langsam sind. Denn dann ist es möglich, dass sie sich „falsch“ aktivieren und entladen und darüber Schmerzen entstehen.3
MS-Nervenschmerzen
- Trigeminusneuralgie: Der Trigeminusnerv ist ein großer Nerv im Gesicht, der durch die MS entzündlich verändert sein und stark schmerzen kann.
- Lhermitte-Phänomen: Wird der Kopf nach vorn gebeugt, entstehen elektrisierende, kribbelnde Missempfindungen, die bis in Rumpf, Arme und Beine ausstrahlen können.
- Sehnerv-Entzündung: Ist der Sehnerv durch die MS verändert, kann das zu Schmerzen führen.
- Dynästhetischer Schmerz: Das ist ein konstanter, brennender Schmerz, der ohne erkennbaren Anlass, v. a. an Beinen und Füßen, auftritt. Oft verschlimmert er sich nachts und bei körperlicher Belastung.3,5
MS und Schmerztherapie — Medikamente gegen Spastik-bedingten und neuropathischen Schmerz
Welche Medikamente geeignet sind, hängt also von der Schmerzart ab.
Schmerzen durch Spastik bei MS: Was hilft?
Hohen Stellenwert bei Spastiken hat die Physiotherapie als nicht medikamentöse Behandlung. Zudem können Medikamente gegen Spastik bei MS die erhöhte Aktivität der Muskeln senken. Dazu gehören z. B.
- die oral einzunehmenden Arzneimittel Baclofen und Tizanidin,
- cannabinoidhaltige Arzneimittel,
- Arzneimittel, die bei schwerer Spastik als Injektion oder Infusion gegeben
werden, wie z. B. Botulinumtoxin oder Baclofen intrathekal.4,6
Neuropathischer Schmerz bei MS: Was hilft?
- Anfallsartig auftretende Schmerzen oder chronisch schmerzhafte
Missempfindungen lassen sich oft gut mit Antiepileptika behandeln. - Bei Gelenkschmerzen, Muskel- oder Rückenschmerzen durch MS ist
eine Kombination aus Physiotherapie und entzündungshemmenden
Medikamenten häufig wirksam.7,8
MS und Schmerztherapie: Wie Antiepileptika und Antidepressiva wirken
- Diese Substanzen greifen direkt in die Reizleitung im Nervensystem ein
und regulieren sie. Oft müssen sie bei der MS niedriger dosiert werden
als üblich, um die Schmerzen zu hemmen. „Normale“ Schmerzmittel
hingegen unterdrücken verschiedene entzündungsförderliche Prozesse des
Immunsystems, wirken aber eben nicht zentral, am Nervensystem selbst.3,9
MS und Nervenschmerzen — Tipps für den Alltag
Ganz wichtig ist also, die Ursache und damit die Art des Schmerzes zu finden, damit die geeignete Schmerztherapie bei MS beginnen kann. Wenn Sie unter Missempfindungen oder Schmerzen leiden, wenden Sie sich bitte zügig an Ihr Behandlungsteam. Auch kann es sein, dass sich der Schmerz im Verlauf der Erkrankung verändert – und das vielleicht, weil sich die Quelle des Schmerzes verändert hat. Suchen Sie auch dann früh den Schulterschluss mit Ihrem Behandlungsteam.
Multiple Sklerose und Schmerzen: Was Sie für sich tun können
Schmerztagebuch: Sie spüren z. B. Beinschmerzen oder Schulterschmerzen, durch die MS – vermuten Sie. Dann führen Sie ein Schmerztagebuch. Darin notieren Sie, wann die Schmerzen auftraten, durch welchen Trigger (Auslöser) sie ausgelöst wurden, wie sie sich anfühlten und wie stark sie waren. Das kann wertvolle Hinweise auf die Ursache geben.
Hilfsmittel: Achten Sie darauf, dass diese exakt auf Ihren Körper angepasst sind. Falls Sie etwas „drückt“, lassen Sie das am besten sofort korrigieren.
Physiotherapie/Ergotherapie: Die Fachleute für Bewegung können Ihnen Techniken zeigen, wie Sie z. B. mit einem durch MS-Spastik bedingten Schmerz umgehen können. Zudem stärken Sie mit den Übungen Ihren Körper und können Fehlhaltungen (die z. B. Wirbelsäulenschmerzen bei MS verursachen können) ausgleichen.
Kälte/Wärmeanwendungen:
- Wärme: Fördert die Durchblutung, entspannt die Muskeln und kann darüber
Schmerz lindern. - Kälte: Hemmt entzündliche Prozesse und steigert nach der Kühlung die
Durchblutung. Außerdem bewertet das Gehirn die Kälte als einen neuen Reiz
und wendet sich ihm verstärkt zu. So kann man sich selbst – gewissermaßen
– von dem Schmerz ablenken.
Tipp für unterwegs: Es gibt im Handel Wärme- oder auch Kältekompressen, die sofort durch Zerdrücken oder Zerbrechen Kälte oder Wärme abgeben. Sie passen in jede Handtasche oder etwas größere Hosentasche.
Natürlich können auch physikalische Maßnahmen wie Massagen (v. a. bei muskulären Ursachen), Akupunktur oder Nervenstimulationen mit Strom helfen.
Multiple Sklerose: Schmerzen bewältigen, Ihnen begegnen
Die Behandlung eines Schmerzes bei MS erfolgt wie bei allen anderen Menschen. Patient:innen mit MS können über die medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapie hinaus mit sich und ihrer (neuen) Situation arbeiten.
Entspannung-, Aufmerksamkeitstechniken: Diese Techniken schulen die eigene Körperwahrnehmung. Darüber können Sie erreichen, dass Sie Ihre Schmerzen anders wahrnehmen und mit ihnen besser, im Sinne von konstruktiver, umgehen können. Der Schmerz, um es einmal anders zu sagen, „haut Sie nicht jedes Mal um“.
Psychotherapie: Schmerz ist Stress für den Körper – und die Seele. Psychotherapie kann Sie dabei unterstützen, widerstandsfähiger zu werden gegenüber diesem Stressor. Sie begibt sich mit Ihnen zusammen auf die Suche nach eher ungünstigen Denk- und Verhaltensweisen, die womöglich das Schmerzempfinden intensiver machen. Lässt sich zudem noch der Umgang mit Stress im Allgemeinen verbessern, kann das zusätzlich unterstützen. Denn dauerhafter Stress sorgt z. B. für einen erhöhten Kortisolspiegel im Körper, der allgemein schmerzempfindlicher macht.10
Sie sind nicht ohnmächtig, bleiben sie wirkmächtig!
Entspannungstechniken, dieses ganze Gerede von Achtsamkeit, Atemübungen gegen Schmerzen, Psychotherapie … Klingt ein bisschen Wischi-Waschi und nach Zauberei? Bedenken Sie jedoch, dass Ihr Gehirn Sie steuert. Und wenn das Gehirn einmal ein ungünstiges Denk- oder Handlungsmuster ausgebildet hat, dann greift es immer wieder darauf zurück. Das ist ja auch das Einfachste. Wenn Sie beginnen, sich gegen diese Denkmuster zu stemmen, dem Gehirn erklären: „Lass es uns doch einmal anders versuchen, wir beide möchten doch, dass es uns besser geht.“, dann gelingt es Ihnen vielleicht, Ihr Gehirn „umzuprogrammieren“ und darüber besser mit Schmerzen umgehen zu können.
Sie sind nicht ohnmächtig, Sie können selbst wirksam werden!
Tipp
Unser Blog bietet weitere interessante Themen zum Leben mit MS im Alltag und wird kontinuierlich erweitert!
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Disclaimer
Diese allgemeinen Informationen haben nicht die Absicht, eine Erkrankung zu diagnostizieren oder medizinisches Fachpersonal zu ersetzen. Um die beste Beratung für Ihre Krankheit sowie Antworten auf Ihre medizinischen Fragen zu erhalten, sollten Sie einen Mediziner konsultieren. Nur ein Arzt kann Ihre Lage vollumfänglich und angemessen einschätzen und entscheiden, welche Behandlungen erforderlich sind.
Quellen
1 – Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft. (o. D.) Was ist Multiple Sklerose (MS)? Abgerufen am 18.11.2024, von https://www.dmsg.de/multiple-sklerose/was-ist-ms
2 – Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). (25.06.2020). Jeder vierte MS-Erkrankte leidet an Schmerzen. Abgerufen am 18. November 2024, von https://www.dmsg.de/multiple-sklerose/ms-erforschen/grafiken-desquartals/monats/berichte-zu-grafiken-des-quartals/monats/jeder-vierte-ms-erkrankte-leidet-an schmerzen
3 – Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft. (o. D.) Schmerzen und Spastik. Abgerufen am 17.11.2014, von https://www.multiplesklerose.ch/PDF/de/Infoblaetter/01_Medizinische_und_therapeutische_Fragen/MS-Info_Schmerzen_und_Spastik.pdf
4 – Hemmer, B. et al. (2023). Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie. 2. Aufl. AWMF Registernummer: 030/050. Abgerufen am 10. Juli 2024, von https://dnvp9c1uo2095.cloudfront.net/cms-content/030050_living_Guideline_MS_V7.1_240105_1704444034393.pdf
5 – Amsel e. V. (24.07.2019). MS-Lexikon – Lhermitte-Zeichen. Abgerufen am 17.11.2024, von https://www.amsel.de/multiple-sklerose/wasistms/ms-lexikon/lhermitte-zeichen/
Watson, CJ. (September 2022). Neuropathische Schmerzen. Abgerufen am 18. November 2024, von https://www.msdmanuals.com/de/heim/störungen-der-hirn-rückenmarks-und-nervenfunktion/schmerzen/neuropathischeschmerzen
6 – Kretschmer, C. (13.07.2021). MS-induzierte Spastik – Leitliniengerechte Therapie. Abgerufen am 21.11.2024,
von https://www.gelbe-liste.de/neurologie/pharmakotherapie-bei-ms-spastik/ms-induzierte-spastikleitliniengerechte-
therapie
7 – Amsel e. V. (2021). Schmerzen. Abgerufen am 18.11.2024, von https://www.amsel.de/multiple-sklerose/behandeln/die-symptomatische-therapie-der-ms/schmerzen/
8 – Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). (23.11.2021). Welche Ziele verfolgt die Symptomatische
Therapie? Abgerufen am 18.11.2024, von https://www.dmsg.de/multiple-sklerose/ms-behandeln/therapiesaeulen/symptomatische-therapie
9 – Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN). (2019). S2k-Leitlinie Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen. Abgerufen am 18.11.2024, von https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-114
10 – Hasenbring, M. (o. D.) Schmerzpsychotherapie aus (kognitiv-)verhaltenstherapuetischer Sicht. Abgerufen am 18.11.2ß24, von https://www.dgpsf.de/fuer-patientinnen/schmerzpsychotherapie/schmerzpsychotherapie-aus-verhaltentherapeutischer-sicht
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