MEIN ALLTAG MIT MS
Multiple Sklerose bei Männern und Frauen: Was den Unterschied macht
Multiple Sklerose bei Männern und Frauen – wieso ist das ein Thema? MS bei Frauen ist deutlich häufiger als MS bei Männern. Gleichzeitig sind die Frauen oft noch recht jung – und sie stehen vor Lebensphasen wie Familiengründung, Schwangerschaft … Frauen kommen auch in die Wechseljahre, was die nächste große hormonelle Umstellung für den Körper bedeutet. Seit einigen Jahren geht die Forschung der Frage nach: Warum sind Frauen von Autoimmunerkrankungen wie MS häufiger betroffen? Und worin können die Gründe dafür liegen?
Frau und Mann: Gesellschaftlich gleichberechtigt
Frauen und Männer sollten als Menschen gleichberechtigt sein, gleichwohl haben ihre Organismen naturgegeben eine unterschiedliche Biologie. Viele Jahre richtete sich der Blick der Forschung auf erwachsene Männer – in wissenschaftlichen Untersuchungen z. B. waren Frauen häufig unterrepräsentiert. Das ändert sich seit einigen Jahren und die Frage des biologischen Geschlechts fließt in die Auswertung der Daten mit ein – auch bei Fragen der MS bei Frauen und Multiplen Sklerose bei Männern.
Hintergrund: Daten von Studien werden meist rein mathematisch/statistisch ausgewertet. Sind also deutlich mehr Männer als Frauen mit MS in der untersuchten Gruppe, fallen z. B. Nebenwirkungen bei den Frauen nicht so sehr in das mathematische Gewicht. In der Folge werden z. B. Nebenwirkungen unterschätzt.
„ES GIBT EIN ERFÜLLTES LEBEN TROTZ VIELER UNERFÜLLTER WÜNSCHE.“
Dietrich Bonhoeffer
MS bei Frauen und Männern: Biologisch verschieden, gleich behandelt
Heute gehen Forschende davon aus, dass ein und dieselbe Substanz von Frauen und Männern verschieden verarbeitet wird – und das kann wiederum dazu führen, dass z. B.
- Frauen andere Nebenwirkungen entwickeln,
- Frauen anders auf die Behandlung reagieren,
- sich das Behandlungsergebnis verändern kann.¹,²
Die gute Nachricht ist: Frauen und Männer mit MS erhalten die gleiche Therapie, also eine nach bestem Wissen und Gewissen bestmögliche Behandlung.⁴ Bleibt die Frage, warum Frauen so viel häufiger Autoimmunerkrankungen entwickeln. Dazu gibt es erste wissenschaftliche Erkenntnisse.
MS-Häufigkeit bei Männern und Frauen
Frauen erkranken dreimal häufiger an Multipler Sklerose als Männer und sie entwickeln vor allem die schubförmige Form der MS (RRMS). Entwickelt sich die MS einer Frau unter 20 Jahren, liegt das Verhältnis sogar bei 4:1. Der Verlauf der MS bei Männern hingegen ist häufiger die primär chronisch progrediente Form der MS (PPMS)¹. Weltweit betrachtet, verteilen sich alle Autoimmunerkrankungen zu fast 80 Prozent aller Erkrankungen auf Frauen.¹,²,³
MS bei der Frau : Das Immunsystem
Das Immunsystem spielt eine Rolle bei der Entstehung von Multipler Sklerose bei Männern und Frauen. Heute weiß man, dass das Immunsystem von Frauen aktiver ist. Das hat zwei Seiten: Es schützt sie zwar vor Infektionen, kann aber auch die autoimmune Antwort im weiblichen Körper womöglich verstärken.⁵ Gleichzeitig sieht es so aus, dass die männlichen und weiblichen Hormonsysteme das Immunsystem beeinflussen.
MS bei Frauen und Männern: Die Hormonsysteme
Bei Frauen dominieren eher die Hormone Östrogen und Progesteron, bei Männern das Testosteron. Der Testosteronspiegel bleibt über die Lebensspanne recht stabil, die Spiegel der weiblichen Hormone schwanken – z. B. während der Pubertät, innerhalb eines Zyklus, während der Schwangerschaft und auch in der Menopause, den Wechseljahren. Das hat verschiedene Auswirkungen.
Multiple Sklerose bei Frauen: Schutz durch Östrogen
Obwohl Frauen häufiger autoimmun vermittelte Erkrankungen entwickeln, scheint das Hormon Östrogen insgesamt eine schützende Funktion vor allem im Nervensystem zu besitzen.⁵ Untersuchungen zeigen auch, dass sich die Schubrate bei Frauen während der Schwangerschaft verringert, was an den Hormonen Östrogen und auch Progesteron liegen könnte, die beide während der Schwangerschaft vermehrt ausgeschüttet werden.⁵,⁶
MS und Männer: Schutz durch Testosteron
Das vermehrt bei Männern aktive Hormon Testosteron scheint bei der MS schützend zu wirken, indem es den Abbau der Myelinscheiden (Schutzmantel der Nervenbahnen) hemmt. Der vermutete Mechanismus dahinter: Das Hormon stimuliert die Bildung sogenannter Interleukine (spezielle Eiweiße der Immunabwehr), die wiederum regulierend auf das Immunsystem wirken.⁷ Eine Untersuchung hat z. B. gezeigt, dass Männer (sowie Frauen, denn auch sie haben eine kleine Menge Testosteron im Körper), die an MS erkranken, einen vergleichsweise geringen Testosteronspiegel haben.⁷,⁸
Multiple Sklerose bei Männern und Frauen: Genetische Einflüsse
Das X-Chromosom ist das Gen, das einem Organismus die biologische Erscheinung „weiblich“ zuweist. Auf diesem Gen eingeschrieben haben Forschende Abschnitte gefunden, die bei Menschen mit MS deutlich häufiger auftreten. Auch tragen diese Menschen öfter solche Gene, die die Anfälligkeit für die MS erhöhen können.⁵,⁹ Eine recht aktuelle Untersuchung an eineiigen Zwillingen, die ja das gleiche Erbgut besitzen, brachte ebenso neue Erkenntnisse. Es wurde untersucht, warum der eine Zwilling eine MS entwickelte – und der andere nicht. Die Forschenden fanden Hinweise darauf, dass nicht nur die genetische Ausstattung zu einer Erkrankung wie der MS führt, sondern Umweltfaktoren eine Rolle zu spielen scheinen. Den Ergebnissen zufolge liegt der Schlüssel zur Antwort einmal mehr im Immunsystem. Und da, um genau zu sein, bei den Zytokinen, das sind Eiweiße, über die das Immunsystem im Körper kommuniziert.¹⁰ Also beeinflussen nicht allein die Gene, sondern auch Umweltfaktoren, wie sich Gesundheit und Krankheit verhalten.
MS bei Frauen: Die weiblichen Lebensphasen
Die Spiegel der Hormone können Auftreten und Verlauf einer MS beeinflussen, das betrifft vor allem Frauen, da ihre Lebensphasen ja von wechselnden Hormonlagen geprägt sind.
- Vor der Pubertät: Vor Ende der Pubertät entwickeln Menschen selten eine MS, auch sind Jungen und Mädchen gleich oft betroffen.
- In der Pubertät: Beginnen bei den Mädchen/Frauen die Konzentrationen der weiblichen Geschlechtshormone zu steigen, steigt auch die Rate der MS-Erkrankungen.
- In der Schwangerschaft: Während der Schwangerschaft sinkt oft die Schubrate (leider kann sie nach Ende der Schwangerschaft wieder steigen).
- Menopause/Wechseljahre: Da in dieser Phase weniger und schließlich keine weiblichen Hormone mehr produziert werden, kann sich die MS verschlechtern und fortschreiten.¹¹
MS bei Frauen: Die Phase des Stillens
Viele MS-Medikamente sind für die Zeit des Stillens nicht zugelassen, da unklar ist, ob sie auf das Neugeborene wirken können. Von daher haben Forschende auch diese Zeit genauer untersucht. Einige Ergebnisse sind:
- Bei Frauen, die nach einer Entbindung voll stillen, scheint sich das Risiko für Schübe zu reduzieren (ca. 25 Prozent der vollstillenden Frauen hatten einen Schub im ersten halben Jahr nach Entbindung; stillten die Frauen nicht voll, trat bei fast 40 Prozent ein Schub auf.)¹²
- Zudem scheinen Frauen, die mehrere Monate in ihrem Leben stillten, insgesamt seltener eine MS zu entwickeln.¹³,¹⁴
Vermutet wird, dass Stillen die Arbeit des Immunsystems positiv beeinflusst, aber ganz geklärt sind die Ursachen noch nicht. Übrigens: Zwischen der Einnahme hormoneller Verhütungsmittel und dem Auftreten einer MS bei Frauen ließ sich kein Zusammenhang finden.
Geschlecht, Gender und Umwelt(faktoren)
In der deutschen Sprache gibt es „nur“ das Wort „Geschlecht“. In der englischen Sprache lässt sich ein wichtiger Unterschied über zwei Worte ausdrücken:
- „sex“: ist das biologische Geschlecht
- „gender“: umfasst umwelt- und personenbezogene Aspekte eines Menschen
Zu den umweltbezogenen Umständen gehören z. B. soziale, psychosoziale, ernährungsbezogene Fragen oder eben auch solche, die das Selbstverständnis eines Menschen betreffen. Alles in der Welt kann einen Einfluss haben darauf, wie sich ein Mensch und Erkrankungen entwickeln – wie ja auch die Untersuchung mit den eineiigen Zwillingen zeigt. Man vermutet heute, dass die Gene etwa die Hälfte eines Menschen „ausmachen“, die andere Hälfte seine Lebensumstände.¹⁰ Für die Forschung bleibt also noch jede Menge zu tun … Und das bringt vielleicht in ein paar Jahren Erkenntnisse, die hilfreich für alle sind, Frauen wie Männer.
Was Sie mit diesem ganzen Wissen machen können ...
… ist ganz einfach. Sie setzen es ein. Vernetzen Sie Ihre Behandler:innen, bleiben Sie dran. Ihr neurologisches Behandlungsteam weiß viel über die Multiple Sklerose, aber vielleicht weniger über Schwangerschaft und Menopause. Ihr:e Gynäkolog:in weiß dafür viel zu den weiblichen Lebensphasen und den dazu gehörigen Hormonumstellungen. Womöglich gelingt es Ihnen, die beiden Fachleute zusammenzubringen. Damit helfen Sie sich selbst – und unterstützen die so wichtige geschlechtsspezifische Forschung.
Tipp
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Disclaimer
Diese allgemeinen Informationen haben nicht die Absicht, eine Erkrankung zu diagnostizieren oder medizinisches Fachpersonal zu ersetzen. Um die beste Beratung für Ihre Krankheit sowie Antworten auf Ihre medizinischen Fragen zu erhalten, sollten Sie einen Mediziner konsultieren. Nur ein Arzt kann Ihre Lage vollumfänglich und angemessen einschätzen und entscheiden, welche Behandlungen erforderlich sind.
Quellen
1 De Castro, P., Heidari, S., Babor, T. F. (2016). Commentary Sex And Gender Equity in Research (SAGER): reporting guidelines as a framework of innovation for an equitable approach to gender medicine. Ann Ist Super Sanità, 52/2, 154-157
2 Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). (27.01.2023). Genderspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose (MS): Positionspapier der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. B. Abgerufen am 16.6.2024, von https://www.dmsg.de/news/detailansicht/genderspezifische-aspekte-der-multiplen-sklerose-mspm- zum-positionspapier-der-deutschen-multiple-sklerose-gesellschaft-bundesverband-ev-dmsg
3 Fairweather, D., Frisancho-Kiss, S., Rose, N.R. (2008). Sex differences in autoimmune disease from a pathological perspective. Am J Pathol., 173(3):600-9, doi: 10.2353/ajpath.2008.071008
4 Amsel e. V. (2023). MS-Therapie: Frauen und Männer gleich behandelt. Abgerufen am 19.6.2024, von https:// www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/frauen-und-maenner-gleich-gut-behandelt/
5 Ngo, S.T., Steyn, F.J., McCombe, P.A. (2014) Gender differences in autoimmune disease. Front Neuroendocrinol., 35(3): 347-69, doi: 10.1016/j.yfrne.2014.04.004
6 Avila, M., Bansal, A., Culberson, J., Peiris, A.N. (2018). The Role of Sex Hormones in Multiple Sclerosis. Eur Neurol. 80(1-2):93-99, doi: 10.1159/000494262.
7 Russi, A.E., Ebel, M.E., Yang, Y, Brown, M.A. Male-specific IL-33 expression regulates sex-dimorphic EAE susceptibility. Proc Natl Acad Sci 2;115(7):E1520-E1529, doi: 10.1073/pnas.1710401115.
8 Metzger-Peter, K., Kremer, L.D., Edan, G., Loureiro De Sousa, P., Lamy, J., Bagnard, D., Mensah-Nyagan, A-G., Tricard, T., Mathey, G., Debouverie, M., Berger, E., Kerbrat, A., Meyer, N., De Seze, J., Collongues, N. (2020). The TOTEM RRMS (Testosterone Treatment on neuroprotection and Myelin Repair in Relapsing Remitting Multiple Sclerosis) trial: study protocol for a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Trials 29;21(1):591, doi: 10.1186/s13063-020-04517-6
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10 Ingelfinger, F., Gerdes, L.A., Kavaka, V. et al. (2022). Twin study reveals non-heritable immune perturbations in multiple sclerosis. Nature 603: 152–158, https://doi.org/10.1038/s41586-022-04419-4
11 Murgia, F., Giagnoni, F., Lorefice, L., Caria, P., Dettori, T., D’Alterio, M.N., Angioni, S., Hendren, A.J., Caboni, P., Pibiri, M., Monni, G., Cocco, E., Atzori, L. (2022). Sex Hormones as Key Modulators of the Immune Response in Multiple Sclerosis: A Review. Biomedicines ;10(12):3107, doi: 10.3390/biomedicines10123107
12 Hellwig, K., Rockhoff, M., Herbstritt, S. (2015). Exclusive Breastfeeding and the Effect on Postpartum Multiple Sclerosis Relapses. JAMA Neurol. 72(10):1132-1138, doi:10.1001/jamaneurol.2015.1806
13 Langer-Gould A, Smith JB, Hellwig K, Gonzales E, Haraszti S, Koebnick C, Xiang A. (2017). Breastfeeding, ovulatory years, and risk of multiple sclerosis. Neurology., 8;89(6):563-569, doi: 10.1212/ WNL.0000000000004207
14 Krysko K.M., Rutatangwa A., Graves J., Lazar A., Waubant E. (2020). Association Between Breastfeeding and Postpartum Multiple Sclerosis Relapses: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Neurol. 77(3):327–338, doi:10.1001/jamaneurol.2019.4173
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