MEIN ALLTAG MIT MS
Blicke im Alltag – wir MS-Patient:innen kennen sie
Ein Augenblick. Es braucht nur den Hauch einer Sekunde, und man entscheidet, was dieser ‚Blick‘ bedeuten könnte. Als mein Körper begann, sich durch die Krankheit Multiple Sklerose zu verändern und die körperlichen Einschränkungen sichtbarer wurden, hatte ich das Gefühl, mehr beobachtet zu sein als zuvor. Diese Gefühle begleiteten mich viele Jahre und es gab für mich nur einen Weg da raus zu kommen: Zurück schauen!
Wieso schauen wir überhaupt? Ganz einfach: Wenn wir etwas sehen, was uns interessiert, dann schauen wir. Wenn unsere Aufmerksamkeit geweckt wird – oder wenn wir etwas sehen, was aus unserer Sicht nicht ganz alltäglich ist. Ich habe schon ziemlich früh die Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen auf mich gezogen, fühlte mich lange Zeit meines Lebens sehr beobachtet und wusste nie so genau, was der Grund dafür war, wieso mich alle anstarrten. Oder war es nur ein Gefühl? Stell dir vor: Ein Gefühl von Millionen Augen, die auf dich schauen. Du stehst mitten in einem Raum, und auf dich gerichtet all diese vielen Augen.
Ich war als Kind Sportlerin und Mitglied in einem Leichtathletik-Verein. Eines Tages, es war gerade die Zeit der Wettkämpfe, trainierte ich den Hürdenlauf auf dem Sportplatz meines damaligen Wohnortes. Es kam plötzlich und ohne Vorankündigung: Ich bekam auf einmal meine Beine nicht mehr hoch genug beim Hürdenlauf. Es war eine merkwürdige Situation, jeder aus meiner Mannschaft starrte mich an in diesem Moment. Ich blieb stehen und hielt verwirrt inne. Wusste es nicht einzuordnen und reagierte so, wie wahrscheinlich viele andere auch reagieren würden: Ich schämte mich und wollte so schnell wie möglich diese Situation verlassen. Nach diesem Vorfall beendete ich meine Karriere als Sportlerin endgültig und bekam ungefähr zwei Jahre später die Diagnose MS.
„So jung und schon so betrunken? Es ist 10 Uhr morgens“
Ich war zur Zeit der Diagnose ungefähr 20 Jahre alt und wohnte in einem neuen, mir fremden Ort in meiner kleinen Einzimmerwohnung. Ich konnte damals noch mehr oder weniger gehen, auch wenn mein Gangbild sich, nachdem ich den Sport an den Nagel gehängt hatte, nicht mehr zum Besseren entwickelte.
In diesen Tagen verließ ich die Wohnung nicht oft und war viel zu Hause, denn das Laufen wurde immer mühsamer für mich. War ich mal draußen, suchte ich alle paar Meter nach einer Sitzgelegenheit. Mein linkes Bein fühlte sich an, als würde ich eine schwere Bleikugel hinter mir herziehen, wobei der Fuß einen „eleganten“ Schlenker nach links außen machte. Außerdem nahm ich eine Art Schonhaltung ein, damit ich das Gleichgewicht während des Gehens halten konnte. Ein Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: An diesem Tag, die Sonne schien und es war herrliche Luft, stand Einkaufen auf meiner To-Do-Liste.
Leider müssen wir das ja alle gelegentlich erledigen, und so nahm ich meine Tasche, eine möglichst große und dabei leichte, holte tief Luft und machte mich auf den weiten Weg zum Supermarkt. Hier wird deutlich, wie verschieden die Empfindungen für „weit“ sein können: Luftlinie war die Entfernung ungefähr 50m. Für mich fast unüberwindbar.
Zum und dann durch den Supermarkt zu hoppeln, wurde also einmal die Woche zu meiner neuen Sportdisziplin.
Als ich im Supermarkt ankam, setzte ich mich erst mal auf eine Palette Mineralwasser, um zu pausieren. Nach einigen Minuten aber wurde mir das schon sehr peinlich, und so stand ich langsam wieder auf und schwankte weiter in Richtung Gemüseabteilung. Dort angekommen bemerkte ich, dass sich ein sonderbares Gefühl einschlich: Ich war plötzlich sehr angeschlagen und fühlte Schwindel, ein Gefühl, als würde ich nach dem Feiern betrunken aus dem Club torkeln. Doch ich hatte nichts getrunken. Es war, als haute mir jemand mit einem riesengroßen Hammer auf den Kopf, und ich fiel kurzum in die Gurken, die neben mir ausgelegt waren. Zwei ältere Damen, die das gesehen hatten, konnten nicht an sich halten und fragten sich gegenseitig lautstark, wie es denn sein könnte, dass ein so junges Mädel schon um 10 Uhr morgens betrunken sei. Wie ich darauf reagieren sollte, wusste ich nicht. Ich stand langsam auf, nahm mir zwei Gurken aus dem Haufen und machte mich, so schnell hoppelnd wie ich konnte, auf den Weg zur Kasse.
Klassische MS-Symptome wie Gangunsicherheit und Gleichgewichtsstörungen können den Anschein erwecken, man sei betrunken
Wenn MS sichtbar wird – der Umgang mit MS-Betroffenen im Rollstuhl
Es gab viele ähnliche Situationen in meinem Leben, und so habe ich irgendwann anfangen müssen, die Blicke und Kommentare der anderen nicht allzu persönlich zu nehmen.
Sie kennen mich nicht. Ich kenne sie nicht. Jeder trägt sein Päckchen. Dies zu wissen, macht es nicht unbedingt gut, aber es macht die Situationen ein wenig erträglicher.
Schon damals war es so, dass man es mir ansehen konnte, wann immer ich irgendwo stand, ging oder tanzte. Natürlich wusste niemand auf Anhieb, dass es Multiple Sklerose ist, und somit blieben fragende und vielleicht auch sorgenvolle Blicke nicht aus. Wenn ich heute im Rollstuhl unterwegs bin und das Gefühl habe, dass ich von jemandem angestarrt werde, bleibe ich höflich, aber direkt. Ich schaue zurück, öffne meine Augen, hebe meine Mundwinkel und lächle. Meistens kommt ein Lächeln zurück. Manchmal kommt es mir dann sogar vor, als schämte sich der ‚Glotzer‘.
Bei Kindern ist es besonders spannend. Kinder sagen die Wahrheit – mit ihren Blicken, und manchmal auch mit lauten Worten, wie zum Beispiel: „Mama, wieso sitzt die Frau im Rollstuhl? Ist sie krank?“ Bitte, liebe Mama, denke ich mir dann, erkläre deinem Kind, dass es so etwas gibt. Dass es Menschen gibt, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, weil sie aus bestimmten Gründen ihre Beine nicht benutzen können, und dass der Rollstuhl normal ist und zum Leben dazu gehören kann. Manches Elternteil spricht ganz offen darüber und erklärt die Situation gut. Manchmal, und das finde ich besonders toll, werde auch ich ganz direkt nach meiner Krankheit gefragt. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die das für unverschämt halten. Mir aber ist lieber man fragt mich, als dass man sich irgendetwas denkt und einfach nur starrt, ohne zu bemerken, dass ich immer nervöser werde und kurz davor bin zu platzen und zu fragen: „Was glotzt du denn so? Hast du noch nie einen Menschen im Rollstuhl gesehen?!“
Kunst der Kommunikation – was sich MS-Betroffene von ihren Mitmenschen wünschen
Ich bin ein offener und freundlicher Mensch und gucke gerne und viel, mit neugierigen Blicken. Dadurch kann es durchaus passieren, dass sich jemand durch meine Blicke belästigt fühlt. Mir kommt es dann manchmal so vor, als bekäme dieser Mensch Angst, dass ich mehr von ihm wolle, als ihn nur anzusehen, was auch immer das sein könnte. Davon lasse ich mich aber nicht entmutigen, denn ein offener Blick gepaart mit einer offenen Körperhaltung ist positiv fürs Selbstwertgefühl. Und manchmal können dabei auch supertolle neue Bekanntschaften entstehen.
Ich bin heute sehr froh und dankbar über die Erkenntnis, dass Blicke von anderen auch sehr hilfreich sein können. In meiner Wahrnehmung bedeuten offene Blicke meist auch eine gewisse Authentizität. Wer schaut, hat Interesse. Manchmal entwickelt sich durch diese Augenblicke eine Kommunikation, ob verbal oder non verbal. Und auch wenn sich dieses alte Sprichwort vielleicht etwas banal anhört:
„Ein Blick sagt mehr als tausend Worte“
Alles Liebe
Deine Nine
Über die Bloggerin
Ich heiße Janine van Deventer und teile schon seit einigen Jahren meine Erfahrungen und meinen Umgang mit MS und mit anderen Erkrankten über meinen Instagram-Account. Ich bin freischaffende Autorin und schreibe auf verschiedenen Blogs zu diversen Themen rund um die MS. Außerdem bin ich Markenbotschafterin. Da ich einen sehr offenen und positiven Umgang mit der MS pflege, ist es mir besonders wichtig, dass auch andere Betroffene ein Gefühl von Glück empfinden können und trotz einer solch schwierigen und komplexen Erkrankung Selbstliebe, Achtsamkeit und Freude im Leben nicht zu kurz kommen müssen.
Erfahrungsberichte Multiple Sklerose
Neben Janine teilen in unserem Blog weitere Patientinnen und Patienten ihre Erfahrungen aus dem Leben mit MS – einfach mal reinschauen und stöbern. Hier geht es zu unserem MS-Blog.
BLOGGERIN JANINE
Disclaimer
Diese allgemeinen Informationen haben nicht die Absicht, eine Erkrankung zu diagnostizieren oder medizinisches Fachpersonal zu ersetzen. Um die beste Beratung für Ihre Krankheit sowie Antworten auf Ihre medizinischen Fragen zu erhalten, sollten Sie einen Mediziner konsultieren. Nur ein Arzt kann Ihre Lage vollumfänglich und angemessen einschätzen und entscheiden, welche Behandlungen erforderlich sind.