MEIN ALLTAG MIT MS
Blasen- und Darmprobleme bei Multipler Sklerose – reden wir darüber!
Statt das Eis zu genießen, wird besorgt auf die wachsende Schlange vor der Toilette geschielt. Der Schreck sitzt tief, wenn sich zeigt, dass am Wochenende die wenigen freien Plätze im Kino mitten in der Sitzreihe liegen. Für Menschen, die schnell auf die Toilette müssen, können diese Wege lang werden. Schon setzt dieses beklemmende Gefühl ein, baut sich diese Wand auf aus Worten wie Tabu, Scham, Versagen …
Halt! Bitte diesen Gedankenkreisel sofort stoppen! Die meisten Wände haben Türen. Der Schlüssel ist: Darüber reden und Unterstützung finden.
Multiple Sklerose: Blase und Darm zeigen oft Symptome
MS und Blase: Blasenstörungen bei MS gelten als häufiges Symptom. Expert:innen schätzen, dass 50 bis 80 Prozent aller an MS erkrankten Menschen im Verlauf der Erkrankung eine sogenannte neurogene Blasenstörung entwickeln können.¹
MS und Darm: Darmprobleme bei MS treten etwas seltener auf. Schätzungen gehen von immerhin 40 bis 70 Prozent aus.²
Blasenprobleme bei MS – Was tun?
Wer ständigen Harndrang hat, sich sorgt, nicht rechtzeitig die Toilette zu erreichen, wem unwillkürlich Stuhl abgeht … der oder die entschließt sich vielleicht, sich aus dem sozialen Leben zurückzuziehen. Die eigenen vier Wände erscheinen dann der sicherste Ort. Inkontinenz ist bei vielen Menschen verbunden mit schlechten Gefühlen wie Scham, Ekel, dem Eindruck, „schmutzig“ zu sein oder vielleicht auch Wut auf das Unvermögen des eigenen Körpers. Die Frage ist: Ist Rückzug die richtige Bewegungs-Richtung? Heilsamer wäre es, darüber zu reden, Unterstützung und Hilfe zu suchen.
Ihr Behandlungsteam weiß, dass eine MS Blasen- oder Darmfunktionsstörungen verursachen kann. Womöglich wird das Thema aktiv angesprochen, anfangs vielleicht eher vorsichtig: „Wie sieht es denn mit Stuhl und Urin aus? Alles in Ordnung?“ Dann liegt es an Ihnen, die Frage auch zu (er)hören – und zu reagieren. Das kann ein Anknüpfungspunkt sein.
Zudem sind wir Menschen recht sozial gestrickt – ist jemand in Not, helfen die meisten gern. Vielleicht lässt sich mit der Eisdiele oder dem Kino vereinbaren, wie Sie schnell zur Toilette kommen. Womöglich reicht der Satz: „Ich muss manchmal schnell zur Toilette, können wir das irgendwie regeln?“
Haben Sie das Gefühl, dass das Thema Inkontinenz Sie sprachlos macht und Sie finden keinen Einstieg, dann können Sie z. B. einen Flyer mit zum nächsten Therapie-Gespräch nehmen und vorlegen. Beginnen können Sie mit einem Satz wie: „Wissen Sie, es fällt mir schwer, darüber zu reden …“ Das ist kein Zeichen von Schwäche! Im Gegenteil, das ist mutig! Wem fällt es schon leicht, über Inkontinenz zu sprechen?
„WIR KÖNNEN DEN WIND NICHT ÄNDERN, ABER DIE SEGEL ANDERS SETZEN.“
Aristoteles
MS: Blasenstörungen erkennen und verstehen
Blasenstörungen bei MS entstehen, weil die geschädigten Nervenleitbahnen ungeordneter, seltener oder häufiger die Impulse zu den Ausscheidungsorganen transportieren. MS-Blasenstörungen zeigen sich unterschiedlich – das ist abhängig davon, wo sich die Schädigung im Nervensystem befindet.
Multiple Sklerose: Blase „falsch informiert"
Die Nieren produzieren Urin, die Blase füllt und dehnt sich. Ist ein bestimmter
Pegel in der Blase erreicht, melden Rezeptorzellen an das Gehirn, dass sie bereit
wäre, sich zu entleeren – Harndrang entsteht. Für die Entleerung der Blase
zuständig sind zwei Muskeln:
- Blasenmuskel (Detrusor)
- Schließmusekel
Das koordinierte Zusammenspiel beider Muskeln lässt den Urin fließen. Ist das
Zusammenspiel MS-bedingt oder aufgrund einer MS-Spastik nicht koordiniert,
kann das Urinieren beeinträchtigt sein.1,3,4
Blasenstörung bei MS: Blase oft zu aktiv
Je nachdem, wo das zentrale Nervensystems geschädigt ist, kann sich eine MS-bedingte Blasenstörung wie folgt zeigen:
- Überaktive/spastische Blase: Die Muskulatur der Blase zieht sich sehr oft zusammen, auch wenn sie noch gar nicht gefüllt ist. Sehr häufiger und intensiver Harndrang entsteht. Man hat immer wieder das Gefühl, zur Toilette zu müssen, aber es kommt nicht viel Urin.
- Verzögerte Blasenentleerung: Die Muskeln spannen sich in dem Moment an, in dem Urin fließen soll, er fließt dann in eher kleinen Portionen und er fließt nicht komplett ab – es verbleibt ein Rest in der Blase.
- Kombination aus spastischer Blase und verzögerter Entleerung: Die Menschen verspüren häufig Harndrang, aber da der Schließmuskel verkrampft, ist die Blasenentleerung beeinträchtigt. Auch dann bleibt Urin in der Blase zurück.
- Eher selten bei MS ist eine schlaffe Blase. Dann bemerken die Menschen gar nicht mehr, das sich die Blase gefüllt hat und irgendwann läuft sie über – so kann es zu unwillkürlichem Abgang von Urin kommen.1,3,4
Multiple Sklerose: Blase entzündet – Zusammenhang erkennen
Wenn Restharn in der Blase bleibt, können sich leichter Blasenentzündungen entwickeln, die wiederum Schübe auslösen und Spastik oder andere Symptome der MS verstärken können.³ Wichtig ist für Menschen mit MS von daher, an einen möglichen Zusammenhang zwischen MS, Blase und Entzündungen zu denken und Kontakt zum Behandlungsteam zu suchen.
Blasenstörung bei MS: Medikamente und Hilfsmittel
- Medikamentös: dazu gehören Medikamente, die die Aktivität z. B. bei spastischer Blase hemmen oder über die sich eine bessere Entleerung erreichen lässt.
- Nicht medikamentös: z. B. Hilfsmittel (Vorlagen, Slips, Kondomurinale) oder Physiotherapie, v. a. das Training des Beckenbodens.1
TIPP
Führen Sie ein Tagebuch darüber, wann und wie oft Sie zur Toilette müssen und welche Symptome auftreten. Das kann den Behandler:innen bei der Diagnose helfen.
MS: Darmprobleme verstehen
Der Stuhl sammelt sich im Enddarm (Darmstück kurz vor Ausgang). Ist er gefüllt, geht eine Meldung an das Gehirn, dass eine Entleerung nötig wäre. Vor allem über den äußeren Schließmuskel lässt sich der Stuhlgang willentlich steuern. Sind dort die Nervenleitbahnen durch die MS geschädigt, kann sich der Darm unwillkürlich entleeren.
MS und Darmprobleme: Wie MS und Darm zusammenhängen
Darmprobleme bei MS können z. B. als Verstopfung auftreten. Dann ist der Darm weniger angeregt, er transportiert den Stuhl langsamer weiter und der Stuhl dickt ein. Auch kann über diesen Vorgang eine MS Blähungen verursachen. Ist durch die Multiple Sklerose der Darm zu stark angeregt, bewegt er sich schneller, der Stuhl wird zügiger weitertransportiert und Durchfall kann entstehen. Allgemein berichten Menschen mit MS eher über Verstopfung, also einer Darmträgheit bei MS, seltener über Durchfälle.
Darmfunktionsstörung bei MS: Medikamente und Hilfsmittel
- Medikamentös: Medikamente wie z. B. Abführmittel bei Verstopfung oder Anticholinergika bei Stuhlinkontinenz.²
- Nicht medikamentös: Einsatz von Hilfsmitteln wie z. B. Klistiere bei Verstopfung oder Analtampons bei Inkontinenz.1,2,4
Multiple Sklerose: Darmbakterien spielen eine Rolle
TIPP
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Tipps für Blasenprobleme bei MS
- Reden! Wer den Eindruck hat, Blase oder Darm sind beeinträchtigt, sollte sich so früh wie möglich an seine Ärztin oder seinen Arzt wenden. Je früher eine Therapie einsetzt, desto schneller sind die Symptome gelindert und ein unbeschwerterer Alltag ist möglich.
- Ausreichend trinken! Klingt absurd, denken Sie? Vor allem, wenn Sie häufig die Toilette aufsuchen müssen. Aber: Der Körper benötigt täglich zwei bis drei Liter Wasser, damit er arbeiten kann und gesund bleibt.
- Sport betreiben, Beckenboden stärken: Beckenbodentraining unterstützt die Funktion von Blase und Darm. Physiotherapeut:innen kennen geeignete Übungen.
- Harndrang nicht unterdrücken, vorbeugend zur Toilette gehen: Ist Harndrang da, kneift man automatisch die Beine zusammen oder überkreuzt sie – aber das kann eine Spastik in der Blase eher noch verstärken.1
- Selbstkatheterisierung (bei Restharn): Die Blase wird über einen Katheter bei Bedarf entleert.
Tipps für Darmprobleme bei MS
- „Ausgewogen“ ernähren: Die Darmtätigkeit lässt sich oft gut durch eine angepasste Ernährung beeinflussen. Suchen Sie Kontakt zur Ernährungsberatung!
- Darm trainieren: Es ist durchaus möglich, den Darm zu trainieren (bei der Blase geht das auch!), ihn also an „feste“ Zeiten für einen Toilettengang zu gewöhnen. Ebenso kann eine Bauchmassage und – natürlich – ausreichend trinken die Darmtätigkeit unterstützen.
TIPP
Wenn Sie mehr über das Thema erfahren möchten, dann hören und schauen Sie rein in das Interview mit Anna und Samira: Blasenprobleme und sexuelle Funktionsstörungen sowie in das Video von MS-Nurse Lea, die eure Fragen zu Blasen- und Darmproblemen erläutert.
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Disclaimer
Diese allgemeinen Informationen haben nicht die Absicht, eine Erkrankung zu diagnostizieren oder medizinisches Fachpersonal zu ersetzen. Um die beste Beratung für Ihre Krankheit sowie Antworten auf Ihre medizinischen Fragen zu erhalten, sollten Sie einen Mediziner konsultieren. Nur ein Arzt kann Ihre Lage vollumfänglich und angemessen einschätzen und entscheiden, welche Behandlungen erforderlich sind.
Quellen:
1 – Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft. (o. D.) Welche Ziele verfolgt die Symptomatische Therapie? – Blasenstörungen/Darmstörungen. Abgerufen am 23.4.2024, von https://www.dmsg.de/multiple-sklerose/msbehandeln/ therapiesaeulen/symptomatische-therapie
2 – AMSEL e.V. (2021). Darmfunktionsstörungen. Abgerufen am 23.4.2024, von https://www.amsel.de/multiplesklerose/ behandeln/die-symptomatische-therapie-der-ms/darmfunktionsstoerungen/
3 – AMSEL e.V. (2021). Blasenfunktionsstörungen. Abgerufen am 23.4.2024, von https://www.amsel.de/multiplesklerose/ behandeln/die-symptomatische-therapie-der-ms/blasenfunktionsstoerungen/
4 – Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft. (o. D.) Blasen- und Darmstörungen. Abgerufen am 23.4.2024, von https://www.multiplesklerose.ch/PDF/de/Infoblaetter/01_Medizinische_und_therapeutische_Fragen/MS-Info_ Blasen-_und_Darmstoerungen.pdf
5 – AMSEL e.V. (2022). Behandlung der milden/moderaten MS – Therapie kann Mikrobiom „normalisieren“. Abgerufen am 25.4.2024, von https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/ms-therapie-kannmikrobiom- normalisieren/
6 – Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft. (2022). Die Rolle von Darmflora und Ernährung bei MS. Abgerufen am 25.4.2024, von https://www.multiplesklerose.ch/de/aktuelles/detail/die-rolle-von-darmflora-undernaehrung- bei-ms/
7 – Kuno, E., Hayder, D. (2018). Eine Spirale aus Angst, Scham und Isolation. Die Schwester Der Pfleger, 4: 34ff. 8 – Hayder-Baichel, D. (2017). Kein Grund zur Scham. Die Schwester Der Pfleger, 1: 34ff.
Internetquellen zuletzt besucht am 30.04.2024